Ein Dirigent auf Abwegen
aus dem Buch 'Schatten um Mitternacht'
Das Streichquartett spielte gerade eine einschmeichelnde Melodie. Die Bewohner des Seniorenheims Villa Sonnenschein, allesamt gut betucht, lauschten angeregt der Musik im renovierten Musiksaal. Der Dirigent, ein großer hagerer Mann in einem Frack mit silbergrauem Haar, kippte plötzlich, ohne ersichtliche Ursache, vornüber und hing mehr oder weniger über seinem Dirigentenpult. Es sah grotesk aus, wie seine Beine sich in die Luft streckten. Der Taktstock war ihm aus der Hand gefallen und rollte nun über den leicht abschüssigen Boden, bis er in einer Ritze des neuen Parketts hängen blieb. Es war still, die Instrumente waren verstummt, niemand sagte einen Ton, und das Publikum saß wie erstarrt auf seinen Stühlen. Auf einmal erhoben sich zwei ältere Damen und gingen mit forschen Schritten auf den Mann zu. Die eine fühlte seinen Puls und die andere kniete sich hin und zog das obere Augenlid hoch. Elisabeth schüttelte den Kopf und meinte leise:
„Nichts mehr zu machen, er ist tot. Kann uns bitte mal jemand helfen? Wir müssen ihn auf den Boden legen.“ Mit diesen Worten winkte sie ins Publikum, zwei Männer standen auf und eilten auf das Pult zu. Sie zogen den Musiker hinunter und legten ihn auf den Holzboden. Jetzt kam Leben in die Zuhörer, sie redeten durcheinander und versammelten sich um den am Boden Liegenden und die beiden Frauen. Aus dem Streichquartett, das nur aus weiblichen Musikerinnen bestand, kam ein unterdrücktes Schluchzen.
„Wir brauchen einen Arzt, aber schnell.“ Mit geschlossenen Augenlidern, die Gesichtshaut fahl, lag Christian Furtner auf dem Boden. Dies sollte sein letzter Auftritt gewesen sein. Katharina, die andere Frau, winkte ihre Freundin zur Seite.
„Hast du seine Hautfarbe gesehen und die Augen? Selbst im Tod zuckten seine Augenlider. Der ist an keinem natürlichen Tod gestorben. Warten wir ab, was der Arzt sagt.“ Elisabeth nickte. Die beiden Hobbydetektivinnen hatten schon so manchen Kriminalfall gelöst, doch bisher keinen Mord. Der Arzt der Villa Sonnenschein, der kurze Zeit später eintraf, untersuchte den Dirigenten und erklärte:
„Herzinfarkt, ganz klarer Fall.“ Den Sanitätern, die er gleich mitbrachte, nickte er zu. „Den braucht ihr nicht mehr mitzunehmen. Wir brauchen den Bestatter.“ Elisabeth schüttelte den Kopf, das konnte doch nicht wahr sein. Woher wollte der Arzt auf die Schnelle wissen, woran der Musiker gestorben war? Sie ging auf ihn zu und sagte:
„Herr Doktor sehen Sie sich doch mal die Hautfarbe des Toten an. Sie sieht aus, als ob den Mann schon vor zwei Tagen das Zeitliche gesegnet hat. Er ist aber grad mal eine halbe Stunde tot.“ Der Arzt, der erst vor einer Woche seinen Dienst im Seniorenheim angetreten hatte, musterte Elisabeth geringschätzig und erwiderte mit harschem Ton:
„Ach, haben Sie auch Medizin studiert, eine Kollegin also? Was maßen Sie sich an, meine Diagnose in Frage zu stellen.“ Er nahm seine Tasche und ging mit raschen Schritten, ohne noch einen Blick auf den Toten zu werfen, aus dem Raum. Sprachlos starrten ihm viele Augenpaare hinterher.
„Das ist unser neuer Arzt?“, fragte Katharina in die Runde, einige der Bewohner nickten. Mittlerweile war der Bestatter mit seinen Mitarbeitern eingetroffen. Christian Furtner wurde in einen einfachen Sarg gelegt und abtransportiert. Elisabeth zog Katharina am Ärmel und flüsterte:
„Komm, lass uns mal mit seinen Musikerinnen reden.“ Sie bahnten sich einen Weg zu den Frauen, die noch immer im Schock, mit ihren Geigen in den Händen, regungslos auf ihren Stühlen saßen.
„Entschuldigung dürfen wir Sie mal etwas fragen?“, meinte Elisabeth zu einer jungen rothaarigen Frau, die sich bleich und zitternd an ihrer Geige festhielt. Sie sah auf und nickte.
„Kannten Sie den Herrn Furtner schon lange?“ Die junge Frau schüttelte den Kopf und fing haltlos an zu weinen.
„Wieso sind Sie dann so bestürzt über seinen Tod?“, fragte Katharina sie verwundert.
„Weil sie in ihn verliebt war, wie wir alle“, rief eine andere Frau aus und schluchzte. Elisabeth und Katharina sahen sich an.
„Sie vier haben ihn geliebt? Und er, hat er diese Liebe erwidert?“, fragte Elisabeth und warf einen Blick auf eine schwarzhaarige Geigerin. Sie lächelte unter Tränen und meinte versonnen:
„Ja, hat er. Er war der Beste, und es ist eine Tragik, dass er so früh gehen musste. Ich glaube, eine von euch hat das getan.“ Sie sah zu den anderen Frauen hinüber, erhob sich von ihrem Stuhl und trat ans Fenster.
„Du spinnst wohl, wie kommst du darauf?“
„Weil er mich am meisten geliebt hat“, antwortete sie. „Und das wusstet ihr.“ Bald entbrannte ein Streit unter den Frauen, die sich an die Gurgel gingen. Elisabeth und Katharina hatte große Mühe, die vier zu trennen.
„Ich glaube, es ist am besten, wenn Sie nach Hause gehen“, meinte Elisabeth mütterlich. Die Frauen packten ihre Musikinstrumente ein und verabschiedeten sich. Katharina legte ihren Arm um die Schulter der Freundin und sagte leise:
„Lass uns in mein Zimmer gehen, wir müssen besprechen, wie wir weiter vorgehen.“ Verwundert sah Elisabeth sie von der Seite an. Wenn Katharina schon so anfing. Die beiden Frauen machten es sich gemütlich und genehmigten sich zunächst ein Likörchen.
„Hast du eine Idee?“ Katharina nickte.
„Wir müssen zur Polizei gehen und denen unsere Vermutung mitteilen. Das muss schnell geschehen, bevor sie den Dirigenten einäschern ...